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Der Hof des Gefängnisses war grell beleuchtet, die Scheinwerfer an den Wänden waren eingeschaltet. Die Gesichter der Menschen waren weiß, alles sah aus wie in einem überbelichteten Film. Ein Lastwagen stand in der Mitte, die hintere Plane war zurückgeschlagen. Die Gefangenen kletterten auf die Lade und setzten sich auf die Bänke. Vier Soldaten bewachten sie, sie hatten Maschinenpistolen. [...]. Keiner schrie Befehle, keiner wehrte sich.

Der Fall Collini (Ferdinand von Schirach)

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Julian war nicht mehr da. Ich schrie seinen Namen, ich warf mich gegen die Menge; das Licht dieses Tages schien zu erlöschen, alles Licht überhaupt, als hätte ich getötet und wäre zum Tode verurteilt. Meine Stimme überschlug sich, ich rief jetzt um Hilfe, und deutsche Urlauber eilten herbei. Ich sah in rote Gesichter, ich hörte beruhigende Worte, ja unterschied sogar Dialekte. Dann stürzte ich mich erneut in den Strom, der mir Julian genommen hatte. Die immer noch vorwärtsdrängenden Menschen, taub gegenüber meinem Schreien und Rufen, rissen mich vorwärts. Weiter und weiter schienen sich mich zu entfernen von Julian, schon stellte ich mir mein Leben ohne ihn vor [...]. 'Gib ihn mir zurück', rief ich einem Gott, der mir sonst gleichgültig war, zu, bereit, dafür jeden Schmerz auszuhalten. Nach Atem ringend, blieb ich schließlich im Bazar der Fleischer stehen, sekundenlang abgelenkt von dem Aufruhr in mir. Ich sah Klumpen von Fliegen auf Innereien, ich sah Ziegenköpfe auf altem Zeitungspapier. Ich sah die Fliegen, wie sie mir entgegenschwirrten, und spürte sie auf meiner nassen Haut; ich rannte, um mich schlagend, weiter. 

Der Sandmann (Bodo Kirchhoff)

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Meine Augen sind schön, wie die Augen aller Frauen in dieser Stadt, und benötigen keine Brille. Sie sehen den Mann, den ich einmal verehrt habe, sogar bei Dunkelheit und auf Entfernung. Ich sehe jeden seiner Schritte und werde für jeden seiner Schritte ein Wort finden, kein großes dankbares Wort, eher ein kleines genaues, störend wie ein Spreißel. Und wenn es heute tausend Schritte sind, die er hier mit seinem Kind unternimmt, werden es morgen tausend Worte sein, sie ihm den Schlaf rauben. [...]. Ich füge die Scherben eines Spiegels zusammen und entferne darauf jeden Fleck. Der Mann, der mir nachgereist ist, soll nicht unnötig leiden; ich verlange bloß, dass auch er sieht, ganz am Ende vielleicht sogar mich.

Der Sandmann (Bodo Kirchhoff)

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Damit kein Missverständnis aufkommt: ich lehne mich ab. Lange Zeit wusste ich nichts von diesem Uneinssein mit mir selbst. Ich genoss es, die eigene Stimme zu hören, und rechnete noch mit den besten Jahren. In jeder Hinsicht bereitete ich mich darauf vor, um dann, wenn sie kämen, nicht nur das Beste vom Leben entgegenzunehmen, sondern auch mein Bestes zu geben, aber sie kamen nicht, die besten Jahre; und an diesem Oktobertag, als ich Christine, meine Frau, im staubigen Souk der Buchhändler suchte, Julian, unseren Sohn, fest an der Hand, da schien es mir zum ersten Mal wahrscheinlich, dass sie auch nicht mehr kommen würden.

Der Sandmann (Bodo Kirchhoff)

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Ich wollte nicht, dass dieser Tag begann. Ich wollte liegen bleiben und weiterschlafen, aber durch die weit geöffneten Fenster drangen in unser Schlafzimmer das Lachen der Gemüseverkäufer und das Rattern der Straßenbahn. Unsere Wohnung lag nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Hier, zwischen einer chinesischen Wäscherei und einem alternativen Jugendzentrum, lebten wir. Unsere Wohnung war heruntergekommen und baufällig, aber sie war günstig.

Der Russe ist einer, der Birken liebt (Olga Grjasnowa)