Plötzlich kommen Vincent die Tränen. Er gibt jedoch keinen Laut von sich und starrt weiter auf den Fernseher, als ob er es vor mir verheimlichen will. Ich umarme ihn, und erst da fängt er richtig an zu weinen. Nach einer Weile hat er sich wieder beruhigt und ist eingeschlafen. Ich schaue längst nicht mehr fern, sondern nur auf ihn. Habe wieder die alten Bilder vor mir: Wie ich nach dem Tod meiner Eltern allein in meinem Internatszimmer sitze, noch mit Schnee in den Haaren. Wie ich unsicher auf dem Pausenhof stehe und die anderen Kinder beim Spielen beobachte. Wie es mich davontreibt, fort, fort, fort. Ich sehe mich selbst so sehr in diesem Jungen, dass es mich schmerzt.

Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells)

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Und während ich zurück nach Hause gehe, stelle ich mir vor, so zu enden wie er, von allem befreit, dem Leben zu entkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Hinzufallen auf einem eisigen Weg und nicht wieder hochzukommen und mich irgendwann zu ergeben. Mein Atem wird ruhiger, die Kälte spüre ich nicht mehr. Ich denke an mein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat, unscharfe Bilder, Figuren im Gegenlicht, entfernte Stimmen. Seltsam ist, dass mir diese Vorstellung schon damals nicht traurig vorkam, sondern angemessen und von einer klaren Schönheit und Richtigkeit wie dieser Wintermorgen vor langer Zeit.

Peter Stamm - Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt