Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien. Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es ihn, eine Glut in sich zu wecken; es kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo alles in ihm sich drängte, wo er unter all seinen Empfindungen keuchte. Und jetzt so tot! Er verzweifelte an sich selbst; dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er rührte alles in sich auf - aber tot! Tot! Dann flehte er, Gott möge ein Zeichen an ihm tun; dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden.

Am 3. Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben, das Friederike hieß; er fasste es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen Tag. Am 4. trat er plötzlich ins Zimmer zu Madame Oberlin; er hatte sich das Gesicht mit Asche beschmiert und forderte einen alten Sack. Sie erschrak; man gab ihm, was er verlangte. Er wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg nach Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn schon gewohnt; man erzählte sich allerlei Seltsames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute gingen gleichgültig ihrem Geschäfte nach; man wies ihm eine Kammer - das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.

Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein und einsam. Er warf sich über die Leiche nieder. Der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz fasste ihn an: Diese Züge, dieses stille Gesicht sollten verwesen; er warf sich nieder; er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, dass Gott ein Zeichen an ihm tue und das Kind beleben möge, wie er schwach und unglücklich sei; dann sank er ganz in sich und wühlte all seinen Willen auf einen Punkt. So saß er lange starr. Dann erhob er sich und fasste die Hände des Kindes und sprach laut und fest: "Stehe auf und wandle!" Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig nieder; dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirg.

Wolken zogen rasch über den Mond; bald alles im Finstern, bald zeigten sie die nebelhaft verschwindende Landschaft im Mondschein. Er rannte auf und ab. In seiner Brust war ein Triumphgesang der Hölle. Der Wind klang wie ein Titanenlied. Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der Himmel war ein dummes blaues Auge, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ihn ganz sicher und ruhig und fest.

Georg Büchner (Lenz, Auszug)

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Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gewalt anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinander zu schlagen, eine Zigarette anzuzünden. Die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, schwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Sie können nicht mithalten mit dem Willen des Anderen. Er ist ihnen immer ein Stück voraus. Sie holen ihn nie ein. Keine Unterwerfung, keine Einwilligung, nur die unfassbare Wirklichkeit, die einen denken lässt, "was geschieht mir gerade" oder "das geschieht gerade mir", bloß gibt es da schon kein Ich mehr, jedenfalls nicht mehr das, das es zuvor gab.

Annie Ernaux - Erinnerungen eines Mädchens