Die Insel verlagerte sich langsam nach Osten. Drei bis vier Meter im Jahr, je nach Stärke der Winterstürme und Sturmfluten. Hier, wo er jetzt stand, war vor vierzig Jahren Wasser nur und Watt.

Der Wind hatte in den letzten Stunden aufgefrischt. Eine blauschwarze Wolkenbank lag im Westen über dem Horizont. Böen rissen von den Dünen Sandfahnen hoch. Der Schaum der auslaufenden Wellen wurde in breiten grauweißen Streifen über den Strand getrieben. Möwen glitten über die Wellen, und jäh stürzte eine aufs Wasser, im Schnabel ein kurzes silbernes Aufblitzen.

Vogelweide (Uwe Timm)

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Julian war nicht mehr da. Ich schrie seinen Namen, ich warf mich gegen die Menge; das Licht dieses Tages schien zu erlöschen, alles Licht überhaupt, als hätte ich getötet und wäre zum Tode verurteilt. Meine Stimme überschlug sich, ich rief jetzt um Hilfe, und deutsche Urlauber eilten herbei. Ich sah in rote Gesichter, ich hörte beruhigende Worte, ja unterschied sogar Dialekte. Dann stürzte ich mich erneut in den Strom, der mir Julian genommen hatte. Die immer noch vorwärtsdrängenden Menschen, taub gegenüber meinem Schreien und Rufen, rissen mich vorwärts. Weiter und weiter schienen sich mich zu entfernen von Julian, schon stellte ich mir mein Leben ohne ihn vor [...]. 'Gib ihn mir zurück', rief ich einem Gott, der mir sonst gleichgültig war, zu, bereit, dafür jeden Schmerz auszuhalten. Nach Atem ringend, blieb ich schließlich im Bazar der Fleischer stehen, sekundenlang abgelenkt von dem Aufruhr in mir. Ich sah Klumpen von Fliegen auf Innereien, ich sah Ziegenköpfe auf altem Zeitungspapier. Ich sah die Fliegen, wie sie mir entgegenschwirrten, und spürte sie auf meiner nassen Haut; ich rannte, um mich schlagend, weiter. 

Der Sandmann (Bodo Kirchhoff)